Der Text erschien erstmals in "Dortmund geht aus 2019".
Die Tomatenwelt auf der Restaurantterrasse
Als Patron seines Restaurants gehört Mario Kalweit zu den beständigsten Spitzenköchen in Dortmund. Was die meisten seiner Gäste überrascht: Er ist auch passionierter Tomaten-Aficionado und züchtet auf der Terrasse seines eleganten Restaurants alte Sorten, die er gemeinsam mit seiner Frau Susanne Thoenes in der „Tomatenwelt“ seines Internet-Blogs „Die Genussjäger“ dokumentiert.
Von Peter Krauskopf
Der heiße Sommer fordert seinen Tribut. Die eigentlich mittelspätreifende, fast kindskopfgroße, durchschnittlich 400 bis 800 Gramm schwer werdende und ins Braunrot changierende Tomate der Sorte Ohio 1884 ist Anfang September schon überreif. „Eigentlich wollte ich das dicke Ding als Demonstrationsobjekt für ein Menü rund um die Tomate für die Feinschmecker von Slow Food Bochum zurückbehalten“, meint Mario Kalweit. Doch die Riesenfrucht ist schon geplatzt und der Saft tritt aus, so dass sie die drei Tage bis zum Wochenende nicht mehr durchhalten wird.
Die Slowfoodies aus der Nachbarstadt waren auf „La cuisine Mario Kalweit“ aufmerksam geworden, weil der Patron gemeinsam mit seiner Frau Susanne Thoenes im Internet das Blog „Die Genussjäger“ betreibt. Dort dokumentiert er unter der Rubrik „Marios Tomatenwelt“ seine Leidenschaft für den Paradiesapfel. Unter den Spitzenköchen im Ruhrgebiet ist das eine einzigartige Sache. „Vor einigen Jahren waren wir an der Loire und haben uns die Gärten der dortigen Schlösser angesehen“, erzählt Mario. „Da haben wir in einem Sternerestaurant gegessen, das von einem Tomatengarten umgeben war“. Erste Samen wurden in einem sog. „Tomatenmuseum“ gekauft und zu Pflanzen gezogen. Mittlerweile wachsen 70 Sorten in dem kleinen Gewächshaus und an geschützten Stellen der eleganten Terrasse des Restaurants in der Dortmunder Gartenstadt. Je weitere 15 Sorten stehen in privaten Gärten von befreundeten Gästen und auch auf dem Werkhof, eine Demetergärtnerei im Dortmunder Osten, in der schwer vermittelbare Jugendliche beschäftigt werden. Deren Chefin Rita Breker-Kremer hat Mario auch als unterstützende Expertin für das Slow-Food-Menü herangezogen. Immerhin hat auch sie 80 alte, samenfeste Sorten im Angebot, die interessierte Kunden - neben anderen Gemüsen - im Hofladen des Werkhofs kaufen können.
Geradezu befruchtend war für Mario Kalweit auch die Freundschaft zu dem privaten Tomaten- und Kräuterzüchter Heinz Niehaus aus Bocholt, seiner westfälisch-niederrheinischen Heimat. Der Möbelhauschef ist passionierter Hobbygärtner, der seine Gewächse auch verkauft und den Erlös an ein Hospiz spendet. Auch von ihm bekam Mario zahlreiche Samen.
Bei richtiger Lagerung sind die Tomatensamen fünf bis zehn Jahre keimfähig. Mit sichtlichem Stolz zeigt Mario Kalweit seine Samenschublade. Darin stecken wie in einem großen Karteikasten unzählige exakt beschriftete Samentüten, eine wahre Schatzkiste der Biodiversität. „Im Supermarkt bekommt man häufig sog. Hybrid-Tomaten, also Früchte, deren Samen unfruchtbar sind, damit man beim Hersteller immer wieder neue Pflanzen kaufen muss“, erklärt Mario. Zudem sind die Supermarkt-Tomaten auch nach den Bedürfnissen der Logistik und nicht es des Geschmacks gezüchtet worden: auch unreif schon rot, immer gleich groß zur idealen Verpackung, mit strapazierfähiger dicker Schale. Erst in letzter Zeit ist das Angebot vielfältiger geworden.
Dabei gibt es so viel zu entdecken. Durch den heißen Sommer sind beim Slow-Food-Menü die eigenen Vorräte schon weitgehend geschrumpft, und so bringt Rita Breker-Kremer vom Werkhof an die dreißig verschiedene Sorten zum Verkosten mit. Die Slowfoodies sind begeistert von der Farben-, Geschmacks- und Formenvielfalt. Die Früchte changieren von rot über gelb bis braun, violett und sogar meliert, von kleinen Kugeln bis hin zu riesigen, seltsamen Gebilden. Das Geschmacksspektrum. reicht von süßlich bis säuerlich, von fruchtig bis würzig, von saftig bis mehlig.
Im eigentlichen Menü kommt dann Mario Kalweits ganze Erfahrung zum Tragen. Gut fünfundzwanzig Jahre ist es her, seit er als Küchenchef im Restaurant des Cateringservice „Art Manger“ t einen Michelinstern erkochte. Den Gründer Heiko Antoniewicz kannte er von ihrer gemeinsamen Zeit im legendären Zwei-Sterne-Restaurant „Résidence“ in Essen-Kettwig. Als Antoniewicz dann ausstieg und der Stern verschwand, übernahm Kalweit das Restaurant in eigener Regie und führte es als „La cuisine Mario Kalweit“ weiter. Lange Zeit arebeitet er dann als Fernsehkoch beim WDR, alternierend u.a. mit Nelson Müller, ebenfalls ein Résidence-Veteran.
Befreit von den artifiziellen Zwängen der Sterneküche kann er jetzt ganz die fantastischen Produkte in den Mittelpunkt seiner Kochkunst stellen. Für das Slow-Food-Menü hat er die Tomate durch das Fleisch des schottischen Hochlandrindes ergänzt, das er aus der ebenfalls privaten Zucht von Richard Löttert im münsterländischen Velen ergänzt. Für den großen Braten hat er sich ausgerechnet eine „alte Kuh“ von zehn Jahren ausgesucht. Üblich sind maximal drei Jahre. Das Fleisch wurde fast einen Tag lang in Tomatensaft geschmort und hatte eine deftige Kernigkeit, die jedes labbrige sous-vide-gegartes Stück in den Schatten stellte. Die Sauce war herrlich fruchtig, bei weitem nicht so sauer wie beim Sauerbraten, aber auch nicht so „breit“ wie beim Barolobraten.
Auch nach dem großen Tomatenschmaus können Gaste, die auf die Terrasse von „La cuisine Mario Kalweit“ kommen, durchaus noch Pflanzen, die Früchte tragen entdecken. Auffällig ist eine gelb-schwarzviolette Tomate. „Das ist eine ursprünglich kanadische Sorte, die noch keinen Namen hat sondern unter der Nummer GWX P20-F3 A2 geführt wird, weil man noch nicht weiß, ob sie beständig ist“, erklärt Mario Kalweit. „Bei mir auf der Terrasse ist sie jedoch in den letzten Jahren immer wieder gut gekommen.“ Wer weiß: Haben wir vielleicht bei der eindeutigen Farbgebung in Bälde eine BVB-Tomate?
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