Der Text erschien erstmalig im November 2013 im Winterheft 2013 der Zeitschrift "Revier für Genießer", Klartext Verlag.
Nach zehnjähriger Lehrzeit kehrte Philipp Diergardt vor einem Jahr in den traditionsreichen Gasthof „Diergardts Kühler Grund“ in Hattingen zurück. Als gelernter Koch, Winzer und Sommelier will der 30-jährige Junior-Chef den Familienbetrieb zu einem gehobenen Landgasthaus mit regionaler Ausrichtung umkrempeln. Dabei hat er sich nicht nur mit seinem Vater Friedel auseinanderzusetzen, sondern auch noch mit zwei Küchenchefs, der Mutter, einem Cousin und der Oma.
Von Peter Krauskopf
Es ist schon ein trutziger Bau, der zwischen Hattingen und Blankenstein an der umstrittenen Brückenkreuzung Am Büchsenschütz-Blankensteiner Straße wie ein Schlösschen sein kleines Wachtürmchen dem Gast entgegenstreckt. Verkehrsgünstig gelegen war die Stelle am Sprockhöveler Bach anscheinend schon im Jahr 1904, als Urgroßvater Julius Diergardt hier einen „Gasthof mit Milchwirtschaft“ eröffnete, denn schon bald entwickelte sich das Lokal zu einem beliebten Treffpunkt. Als dann nach dem zweiten Weltkrieg die Großeltern Emil und Theres Diergardt den Laden übernahmen, entwickelte er sich unter dem Namen „Diergardts Kühler Grund“ ganz wirtschaftswunderlich zu einem der führenden Speiselokale in Hattingen. Hier setzten schließlich Friedel Diergardt und seine Frau Gaby an, die 1980 die Leitung übernahmen. Sie bauten das historische Haus noch einmal aus und setzte einen Vorbau, die „Zirbelstube“, an, so dass die einstige Natursteinfassade mit dem granitenen Portal und der alten Hausnummer heute eine Innenwand ist. Aus dem Lokal wurde eine Event-Location mit verschiedenen Räumlichkeiten, dem neuen „Szenario“, dem alten Festsaal, Turmzimmer und Gewölbekeller, und im lichtdurchfluteten, holzverkleideten „Blauen Salon“ wird bis heute eine gutbürgerliche À-la-carte-Küche serviert, wie sie die Hattinger mögen. Mittlerweile ist Friedel Diergardt, das gastronomische Urgestein mit dem fröhlichen Asterix-Schnauzbart, aber auch schon 62 Jahre alt, und es wird Zeit, dass die Nachfolge im Haus geregelt wird.
Auf die Frage, ob es von Anfang an klar war, dass er als Sohn das Traditionshaus, in das er hineingeboren wurde, übernehmen würde, druckst der 30-jährige Philipp Diergardt ein wenig herum. „Eigentlich nicht“, meint er schließlich. „Wie das so ist: Während der Oberstufe, nach dem Abitur, weiß man nicht, was man tun soll.“ An der Gastronomie hatte er in jugendlicher Orientierungslosigkeit nur wenig Interesse, aber auch keine Lust zu studieren. „BWL, Marketing, Mathe, das war alles nix.“ Doch dann hatte Diergardt jr. die erste wegweisende Begegnung. Bei einer Weinprobe im elterlichen Haus lernte er die Winzerlegende Werner Näkel von der Ahr kennen. „Mit dem bin ich dann verhagelt“, erinnert er sich. „Wein hatte mich immer schon interessiert, und Werner Näkel hat mich dann begeistert.“
Das Ergebnis war dann ein dreimonatiges Praktikum im Weingut Meyer-Näkel an der Ahr, und das auch noch im Bilderbuchjahr 2003. Im September und Oktober waren es noch 28 Grad, der Himmel über dem romantischen Flusstal war blau, faule Trauben gab’s nicht. „Und da kommt man ins Praktikum und denkt nur: Mann, das ist ja geil.“ Aus den drei Monaten wurden sechs Monate, Philipp nahm sich eine Wohnung im Winzerstädtchen Dernau, und dann kam die zweite wegweisende Begegnung. Auf einer Veranstaltung im Weingut lernte er Stefan Steinheuer kennen, der mit der Alten Post in Bad-Neuenahr-Heppingen ein mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnetes Restaurant betreibt. „Da wurde bei mir zum ersten Mal die Faszination fürs Kochen, das Arrangement auf dem Teller und gute Produkte entfacht.“ Das Resultat die auflodernden Leidenschaft: Philipp machte bei Steinheuer erst einmal eine Lehre als Koch. Zweieinhalb Jahre lange fuhr täglich mit der Ahrtalbahn von Dernau nach Heppingen und tauchte in die große weite Gourmetwelt ein, denn schließlich „trafen sich dort die Fachpresse, Winzer aus der Champagne etc.“
„Aber ich hatte Werner Näkel versprochen, eine Winzerlehre an die Kochlehre anzuhängen“, erzählt Philipp. Auch das geschah. Er ließ sich in dem Spitzenbetrieb ausbilden und machte 2008 seinen Gesellenwein, einen Spätburgunder, wie es anders an der Ahr nicht sein kann. Näkel hatte ihm 300 Kilogramm Trauben verkauft, die er selbst selektieren durfte, und dann hatte er ein zwei Jahre altes, gebrauchtes Barriquefass im Keller, in dem er den Wein ausbaute. Im September 2009 wurde der „P 1“, P wie Philipp und Pinot, abgefüllt. Einige Flaschen hat er noch. „Der Wein ist jetzt noch wunderschön trinkbar“, schwärmt er.
Doch nach wie vor war Philipp hin und her gerissen: Kochen oder Wein? Weil es daheim Personalprobleme gab, machte er mit einen einem Service-Kollegen von Steinheuer für eine Wintersaison eine Stippvistite von der Ahr an den Sprockhöveler Bach, doch es hielt ihn immer noch nicht am heimischen Herd. Und er erkannte: Mit der Weinleidenschaft ist das so eine Problem im Ruhrgebiet. „Nach der Lehre dachte ich, Scheiße, es gibt gar keine Weinberge im Ruhrgebiet!“
Also ging er zu Nils Henkel ins Gourmetrestaurant Lerbach in Bergisch-Gladbach, wo er eine Kombi-Praktikumsstelle antrat. Da hatte er zwei Tage in der Woche Zeit, zur Sommelierschule zu gehen und dort ebenfalls ein Ausbildung zu machen. Dieser Zeit schlossen in Heidelberg zwei Jahre Hotelfachschule an, wo er auch seine Freundin kenne lernte. Parallel dazu widmete sich auf dem Weingut Seeger bei Heilbronn auch wieder dem Wein.
Doch dann war es endlich soweit. „Ich habe gedacht, jetzt wird es wohl Zeit, mal nach Hause kommen, mit vierzig ist es vielleicht zu spät“, sagt Philipp. „Jetzt versuche ich es seit einem Jahr, mich hier rein zu fuchsen.“
Und das ist gar nicht so einfach. Immerhin muss er sich in „Diergardts Kühlem Grund“ in eine gewachsene Betriebsstruktur eingliedern einfügen, die seit Jahren so läuft wie sie läuft, und das gar nicht so schlecht. Er ist halt der Junior, und seine Aufgabe ist noch das Consulting. „Ich muss da einen riesigen Brocken lernen, vom Büro über die Küche bis zum Service. Man muss sich immer in so. Man muss lernen, wie läuft der Betrieb überhaupt, bis man anfangen kann, bestimmte Dinge umzustellen. Es dauert auch eine Weile, sich selbst zu finden, wo will ich hier eigentlich hin.“
„Das Ganze lebt ja von der Familie, von der Interaktion mit Stammgästen, von der Tradition, vom Namen, da dauert es einfach ein bisschen länger“, hält Philipp den Ball tief. Als Junior hat er es gleich mit drei Vaterfiguren zu tun: Friedel Diergardt als Patron und die beiden Küchenchefs Fritz Berghoff, der seit 25 Jahren im Betrieb ist, und Thomas Staretschek, seit 12 Jahren der zweite Küchenchef. „Und dann gibt es noch einen Cousin, eine Mutter, und die Oma ist auch noch da.“
„Man versucht erst mal kleine Schrauben zu drehen, in der Küche, im Service. Bei vier Mitarbeitern habe ich schließlich als Kind auf dem Arm gesessen. Die haben mir den Lutscher in den Mund gesteckt. Da kann ich nicht nach zehn Jahren kommen und sagen, so, das ist alles Mist und wir machen jetzt alles anders.“
Bei aller Behutsamkeit, die Speisekarte von „Diergardts Kühlem Grund“ zeigt immer deutlicher die Handschrift des Juniors. „Was sich in der Küche geändert hat, ist die konsequente Verwendung von Saisonware“, stellt Philipp fest, und auch die Fokussierung auf regionale Produkte geht auf sein Konto. Mozzarella von der Käserei „Saporita“ aus Waltrop, geräucherte Forellen aus einer Fischzucht in Witten. Doch auch da bewegt er sich in der Tradition des Hauses. Die Familie von Küchenchef Fritz Berghoff betreibt in Herne einen Bauernhof, von dem „Diergardts Kühler Grund“ zwei Charolais-Rinder im Jahr bekommt, die extra dafür aufgezogen worden sind. Im Rahmen seine Ausbildung hat Philipp zahlreiche Kontakte und Freundschaften zu engagierten Produzenten entwickelt, was sich jetzt ebenfalls auszahlt. „Ich bekomme jetzt auch noch ein Rind vom Weingut Odinstal in der Pfalz, einem Spitzenbetrieb des ökologischen Weinbaus“, sagt er. „Die haben im Jahr vier Rinder, und da bekomme ich endlich mal eins. Da fahre ich im November hin, um es zu holen.“ In der Speisekarte werden mittlerweile Untertitel gemacht, die erklären, welche Produkte verwendet werden und damit auch klarstellen, warum ein Gericht vielleicht zwei Euro mehr kostet.
An der bürgerlichen Ausrichtung des Hauses will er gar nicht rütteln. Auch wenn er fünf Jahre lange in Sternehäusern gearbeitet hat, „die Ambition Stern ist auch gar nicht das, was ich will. Wenn man Sterne gelernt hat, kann man jedoch die eine oder andere Geschichte übernehmen“. So gibt es immer wieder Gerichte, wo er versucht, ein bisschen ambitionierter zu werden. Wie zum Beispiel im Herbstmenü, in dem es eine Steinpilzbouillon mit Brotchip und feingehobelten Steinpilzen, die man à la minute aufmixt. „So etwas stammt dann aus diesem Bereich.“ Oder bei der klassischen Kalbsleber, die jetzt nicht nicht mehr klassisch mit Röstzwiebeln, sondern mit einer geschmorten Roscoff-Zwiebel aus der Bretagne serviert wird, die so weich ist, dass sie der Gast aus der Schale löffeln kann. Auch das Catering außerhaus ist ein Feld, wo man gut experimentieren kann. „Da hat man vielleicht ein Menü für zehn Personen, da macht man dann ein Dessert ‚Viererlei vom Apfel‘, was vielleicht so von uns noch nicht kannte.“
Wie die Tradition weitergeschrieben wird, zeigt das „Stammsteak“, ein Klassiker, den schon sein Vater Friedel aus seiner Lehre im ehemaligen Parkhotel Haus Bochum an der Königsallee mitgebracht hatte. „Als ich dann kam und einige Gerichte von der Karte geworfen habe, die seit zwanzig Jahren drauf standen, hat er gesagt: An dem Stammsteak wird nicht gerüttelt“, erinnert sich Philipp. „Ist ja auch in Ordnung, so ein Steak mit Zwiebelkruste und Senf, da kann keiner was gegen sagen.“ Doch es gab ein paar Veränderungen. So wird das Steak nun mit einer grünen Kräuterbutter serviert, und für die Kruste wird der Senf aus der Schwerter Senfmühle verwendet.
Überhaupt ist Philipp Diergardt ein Senf-Freak. „Ich habe in Thüringen eine Senfmühle entdeckt, die von Friedrich Morgenroth in Kleinhettstedt. Ich finde den so genial, da kommt der Schwerter Senf nicht immer mit. Deshalb nehme ich für besondere Gerichte den Thüringer Senf. Auch wenn es das nicht ganz so regional ist, bin ich der Meinung, dass man auch schon mal 300 Kilometer fahren kann, um an ein gutes Produkt zu kommen, wenn man den Erzeuger kennt.“ Den Begriff regional nimmter zwar sehr ernts, will ihn aber nicht allzu dogmatisch sehen, das ist besonders im Ruhrgebiet besonders schwierig. „Ruhrgebietsküche muss man erfinden, aber man sollte nicht jedem Gericht einen nach Ruhrpott klingenden Namen geben“, meint er. „Man sollte gucken, was es hier gibt und daraus was machen.“
Ein Landgasthaus im gehobenen Bereich, das ist ein Ziel, das Philipp Diergardt erreichen will. „Ich bin ein Fan dieser französischen Landgasthäuser mit einer modernisierten Bistro-Küche“, gibt er zu. Im Ruhrgebiet mag das schwieriger sein als in Baden oder Rheinland-Pfalz, doch er glaubt, das mit dem Publikum aus Hattingen, Bochum und Umgebung auch durchaus erreichen zu können. Dazu ist sicherlich ein Spagat nötig. „Es gibt Gäste, die sind von unserer Schnitzelaktion am Sonntag begeistert“, sagt er. „Die erscheinen sonntags ums sechs Uhr, bekommen ein Schnitzel für 12 Euro mit Salat und Bratkartoffeln oder Pommes, dazu ein Bierchen und sind zum Tatort wieder zu Hause. Das ist doch eine fantastische Sache.“
Und dann gibt es Leute, die richtig genießen wollen und meist unter der Woche erscheinen. Für die gibt es dann so eine Rarität wie den zweiten selbstgemachten Wein von Philipp Diergardt, der am Sankt-Martins-Wochenende zum großen Gänsebüffet vorgestellt wurde. Der „P 2“ ist eine rote Cuvée aus Spätburgunder, Lemberger und St. Laurent, die zwei Jahre im Barrique reifte und vor zwei Monaten abgefüllt wurde. Philipp hat den Wein in Zusammenarbeit mit dem Weingut Markus Klumpp in Bruchsal hergestellt. Welch ein Restaurant im Ruhrgebiet kann sich schon so ein exklusives Angebot leisten?
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