Der Artikel erschien erstmals in "Bochum geht aus 2020" und beschreibt den Stand der Dinge im Jahr 2019.
Hattingen ist mit seinem romantischen Fachwerk-Kern für jeden Besucher eine Überraschung – so eine urbane Bilderbuch-Idylle erwartet man im Ruhrgebiet nicht. Besonders im kulinarischen Bereich ist Bochums schmucke Nachbarstadt einen Ausflug wert. Die Hattinger Gastroszene steckt voller Leben und Optimismus. Und ihr Fortbestand wird auf ganz verschiedene Art und Weise gesichert.
Von Peter Krauskopf
Für jeden Gourmetmeilenfreund ist der Besuch des Kulinarischen Altstadtmarktes (KAM) in Hattingen ein Muss. So eine Kulisse findet er sonst nirgends. Der Kirchplatz mit seinen zahlreichen Fachwerk- und schieferverkleideten Fassaden rund um die St.-Georgs-Kirche aus dem 12. Jahrhundert hat eine märchenhafte Atmosphäre, die in dieser Intensität im Ruhrgebiet einmalig ist. Denn Hattingen hatte Glück. Die mittelalterliche Bausubstanz des Stadtkerns hat die Fliegerangriffe des zweiten Weltkriegs weitgehend überstanden. Und – was vielleicht noch ein größeres Glück ist – die Flächensanierungspläne der Wirtschaftswunderzeit in den 1960-er Jahren.
Seit mittlerweile 25 Jahren laden führende Hattinger Gastronomen zum sommerlichen Schlemmen auf hohem Niveau. Gegenwärtig sind das Gasthaus Weiß, Haus Kemnade, Restaurant Poseidon, Zum Hackstück, Diergardt, An de Krüpe und als einziger Nicht-Hattinger Eggers aus Sprockhövel. Das südliche Ruhrgebiet ist seit Generationen Heimat einer Land- und Gasthausszene auf hohem Niveau, im Westen angefangen beim Michelin-besternten Haus Stemberg in Velbert, über Eggers bis hin zur Overkamp Gastronomie in Dortmund im Osten. Aber in Hattingen, das bezeugen die Liste der KAM-Teilnehmer und weitere Landhäuser wie Wegermann im Wodantal, Huxel in der Elfringhauser Schweiz oder das Krans im Katzensein in Blankensteiner Far Out, knubbelt sich die traditionelle Gastronomie geradezu.
Dabei hat sich die Küchenausrichtung dieser Familienbetriebe längst von der volkstümlichen Deftigkeit früherer Zeiten entfernt. Besonders die junge Generation, die in den letzten Jahren die Verantwortung übernommen hat, bringt da die Erfahrungen ein, die sie bei ihrer Ausbildung in den Sterneküchen der großen weiten Welt gesammelt hat.
Den Rundgang über den KAM beginnt man am besten am Stand vom Restaurant An de Krüpe mit einem Hirschcarpaccio als Vorspeise. Wild ist die Spezialität dieses alteingesessenen Betriebes, den es bereits seit 500 Jahren am Stadtrand von Hattingen gibt. Vor sechs Jahren hat Marius Krüpe die Küchenleitung von seinem Vater übernommen. Für den heute 28-Jährigen war völlig klar, dass er in Hattingen bleiben wollte, und das, obwohl ihm nach seiner Ausbildung in illustren Häusern alle Wege offen standen. Von Sprockhövel im Hotel und Restaurant von Dirk Eggers ging es weiter nach Düsseldorf ins „Schiffchen“ zu Sternekoch Jean Claude Bourgueil und ins Tiroler Hotel Trofan Royal zum Sterne- und Haubenkoch Martin Sieberer in Ischgl. „Aber in Hattingen bin ich zu Hause“, sagt Marius, „und wenn man dann auch noch so einen Familienbetrieb im Rücken hat, ist die Entscheidung klar.“
Und dann kann Marius auch noch einer anderen Leidenschaft frönen, der Jagd. Von seinem Großvater hat er gelernt, wie man auf die Pirsch geht, und auch als Koch ist er davon begeistert. „Besser kann man sein Produkt gar nicht kennen lernen, als wenn man es selbst erlegt und dann weiter verarbeitet bis zum fertigen Gericht.“
Am Stand von Diergardts Kühlem Grund ist es schon ein Genuss, Philipp Diergardt zu beobachten, wie er sorgfältig er in einem kleinen Topf portionsweise in einer Kapernvelouté seine Königsberger Klopse zubereitet. Der heute 37-jährige hat die Küchenverantwortung für den seit über 100 Jahren existierenden Familienbetrieb in der Nähe der alten Henrichshütte vor sieben Jahren übernommen. Zehn Jahre war er zur Ausbildung unterwegs, u.a. bei den Sterneköchen Hans Stefan Steinheuer in Bad Neuenahr und Nils Henkel. Doch Philipp ist nicht nur Koch, er hat auch eine Winzerlehre beim Ahrwein-Fürsten Meyer-Näkel gemacht und produziert mit befreundeten Winzern jedes Jahr eigene Weine.
Wie sein Freund Sascha Stemberg kommen bei Philipp Diergardt zwei Küchen von einem Herd, „Heimat und Leidenschaft“ nennt er dieses Konzept. Heimat, das sind durchaus die sonntäglichen Schnitzel, die der Gast bei Diergardts verspeisen kann und trotzdem rechtzeitig zum „Tatort“ wieder zu Hause ist, oder das „Stammsteak“, ein Klassiker, den schon sein Vater Friedel aus seiner Lehre im ehemaligen Parkhotel Haus Bochum an der Königsallee ins Haus gebracht hatte. Dass Philipp die Kruste dann mit Senf aus Schwerte zu bereitete oder für die Auflage die zarte bretonische Roscoff-Zwiebel verwendet, gehört dann schon in die Kategorie „Leidenschaft“. Bestellt man sich diese Gerichte, so hat man gut und gerne das Gefühl, nicht in Hattingen zu sein, sondern in einem Landgasthaus im Elsässischen oder Burgundischen.
Wie fast alle der Hattinger Traditionshäuser ist Diergardts Kühler Grund ein Ausbildungsbetrieb. Heinz Bruns, Vorstandmitglied des DEHOGA Mittleres Ruhrgebiet, weiß, welche Bedeutung das besonders auch für die Nachbarstadt Bochum hat. Bruns‘ Restaurant im Haus Kemnade liegt sozusagen am Schnittpunkt zwischen den Städten. Das Wasserschloss gehört der Stadt Bochum, befindet sich aber auf Hattinger Gebiet. Zudem ist Bruns Mitglied des Kulinarischen Marktes in Hattingen, aber auch Geschäftsführer des Vereins, der die Gourmetmeile „Bochum kulinarisch“ betreibt. Immerhin kommen vier der aktuell 23 „Bochum kulinarisch“-Teilnehmer aus Hattingen.
„Was die Ausbildung angeht, kann die Szenegastronomie, die in Bochum vorherrscht, gar nicht das leisten, wozu die klassischen Traditionshäuser in Hattingen in der Lage sind“, weiß Bruns. Bestes Beispiel ist Boris Geigenmüller, Küchenchef des Bochumer Livingroom (übrigens einer der Betriebe, die in Bochum ausbilden), lernte sein Handwerk bei Diergardts.
Verlässt man den KAM gen Westen, findet man direkt neben dem Alten Rathaus aus dem 14. Jahrhundert am Untermarkt ein Restaurant mit dem emblematischen Namen Fachwerk. Ein Blick auf die aushängende Speisekarte zeigt, dass es hier westfälisch inspirierte Alltagsküche gibt, aber auch kreative Gourmetgerichte. Umso überraschter ist man, wenn der Küchenchef aus der Küche kommt, um seine Gäste zu begrüßen. Semi Hassine sorgt ganz anders als die Erben alteingesessener Familienbetriebe für den Fortbestand der Hattinger Gastronomie.
Der 40-Jährige kam schon als Kind aus Osnabrück nach Hattingen. Sein aus Tunesien stammender Vater hatte auf der Henrichshütte Arbeit gefunden – eine typische Ruhrgebietsbiographie. Nach dem Abitur wollte Semi Hassine Architekt werden und lernte dafür sogar Bauzeichner. Um sich das Studium zu finanzieren, arbeitete er in der Gastronomie und fand dort seine wahre Leidenschaft. Er lernte Koch, natürlich bei Diergardts, arbeitete bei Eckart Witzigmann, in einem Sternerestaurant im österreichischen Kaprun und auch im Casino Zollverein in Essen. 2011 kam die Gelegenheit, die Location seines heutigen Restaurants zu übernehmen, wo bis dato der legendäre Italiener Basilea residierte.
Überregional bekannt wurde Semi Hassine, als er 2018 in der Kochshow „The Taste“ auf Kabel 1 den zweiten Platz machte. So sieht er seine Zukunft durchaus als Fernsehkoch, mit dem Sender arbeitet er an weiteren Auftrittsplänen. Den in Aussicht stehend Ruhm will er durchaus für seinen Standort in Hattingen nutzbar machen. Er plant, aus der Terrasse hinter dem Haus einen Anbau zu machen, um darin eine Kochschule zu gründen.
Und eine weitere Ruhrgebietsbiographie, die typisch ist für die Hattinger Gastronomie. Sabri Arslan (38) ist „ein Kurde, der in einer westfälischen Stadt ein spanisches Tapas-Restaurant betreibt“. Sabri muss lachen, als er sich so charakterisiert. Doch er ist mit seinem Tapas-Restaurant Las Olas, das 2019 sein 10-jähriges Jubiläum feiern kann, ein schönes Beispiel für den Optimismus, der in der Hattinger Gastronomie herrscht.
Zwar ist Sabri kein gelernter Koch, aber auch er entdeckte seine Leidenschaft für die Gastronomie, als er dort immer wieder arbeitete. Und auch das Interesse für spanische Küche und Kultur hatten ihn schon früh gepackt. „Ich wollte unbedingt nach Spanien“, sagt er und machte Praktika in Madrid und Barcelona. Mit dem Las Olas in der Altstadt traf einen Nerv. Schließlich ist die spanische Küche eine der Lieblings-Urlaubsküchen der Deutschen, und der Name für die kleinen Beilagen zum Wein hat sich ganz allgemein als Bezeichnung für Häppchen aller Art durchgesetzt.
Das gemütliche Urlaubsfeeling, das im Las Olas herrscht, kam so gut an, dass er auch zugriff, als ein paar Schritte weiter eine gastronomische Location frei wurde und er eröffnete dort das Las Olas Pintxos, benannt nach der baskischen Tapas-Variante. Sabris neuster Coup ist das Gleis 79 Im historischen Hattinger Bahnhof. Der spätklassizistische Bau aus der Mitte des 19. Jahrhunderts wird schon lange nicht mehr als Bahnhof genutzt. Lediglich die Züge des Eisenbahnmuseums halten hier noch. In der stilvollen, aber großen alten Wartehalle war lange das italienische Systemrestaurant Fabbricca Italiana untergebracht, mit dem es schließlich nicht mehr weiter ging. Sabri geht die neue Herausforderung mit Optimismus an. Gleis 79 ist ein kinderfreundliches Restaurant für Jedermann werden, mit Pommes, Burgern und Pizzen, und eine Eventlocation für Feiern und Partys bis 220 Personen.
Da sage noch einer, dass sie in Hattingen nur Fachwerkromantik können. Die Gastronomie im Bahnhof zeigt, dass auch Industriekultur geht, wie es sich im Ruhrgebiet gehört. Genauso wie das Henrichs in der alten Henrichshütte oder Mario in der Birschelmühle am Stauwehr, das entstand, als man noch Ende der 1950-er Jahre die Ruhr umleitete, um mehr Raum für die Hütte zu bekommen. Die Vielfalt der Gastronomie in Hattingen ist eben einzigartig.
Sonntag, 3. November 2019
Aus dem Archiv: Kulinarisches Hattingen - Tradition und Integration
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