Samstag, 26. September 2009

Aus dem Archiv: Westfälisch genießen - Die Küche unserer Heimat

Der Text erschien erstmals in "Dortmund geht aus 2009/2010"


Das Erscheinungsbild der Ruhrgebietsküche wird nachhaltig durch die Immigranten bestimmt. Italienisch und türkisch essen ist Alltag, die Gerichte polnischen Ursprungs sind so normal, dass man sie kaum noch wahrnimmt. Doch die historische Basis der Metropolenküche Ruhr bilden die Traditionslinien der rheinischen und – besonders in Dortmund - der westfälischen Küche. Die „Neue Ruhrgebietsküche“ entdeckt ihre Wurzeln.

Von Peter Krauskopf


Wissen Sie, was „Moppelkotze“ ist? So heißt nicht der neue Hit des rheinischen Stimmungssängers und Jazz-Dadaisten Helge Schneider aus Mülheim an der Ruhr, sondern das ist der Name eines jener erdigen, urwüchsigen Gerichte, an denen die westfälische Küche so reich ist. „Moppelkotze“ wird aus „Wurstebrei“ gemacht, einem Eintopf aus Fleischresten vom Schlachtfest und Graupen oder Gerstengrieß, dem noch Äpfel und Kartoffeln zugegeben werden. Aber auch „Potthucke“ (ein Kartoffelgratin), „Möppkenbrot“ (aus Schweineblut, Fleischbrühe, Roggenschrot und Rosinen), „Pickert“ (ein süßer oder pikanter Kartoffelpfannkuchen) oder „Lippische Ananas“ (ein gelbes Steckrübengericht) kommen heute dem normalen Restaurantbesucher exotischer vor als Sushi, Curry und Dim Sum.

Eine typisch Dortmunder Spezialität ist der „Pfefferpotthast“, ein Gericht, das man wohl in der Wiener Küche als „Rindsgulasch“ bezeichnen würde und das durch eine starke Zugabe von Pfeffer seinen typischen Geschmack erhält (und die in Zeiten vor Erfindung des Kühlschranks den Odeur des Abgehangenen überdecken sollte). Es wird alljährlich im Oktober mit einem großen kulinarischen Fest in der Innenstadt gefeiert, das auf eine rheinisch-westfälische Fehde im Mittelalter zurück geht. Im Jahr 1378 hatte eine verräterische Dortmunder Kaufmannswitwe ein „Krösken“ mit einem Grafen aus dem niederrheinischen Dinslaken. Als der die Stadt Dortmund überfallen wollte, lenkte sie die Wachen mit der Bitte ab, dass sie ihr etwas „hast“ (also Rindfleisch) besorgen sollten. Daraus wollte die gute Frau den armen Männern ihr Leibgericht kochen. Die Wachen zogen freudig los – und die feindlichen Soldaten konnten eindringen. So etwas würde heute wohl nur noch Schalke-Fans einfallen.

Betrachtet man die Landkarte, so stellt man fest, dass das heutige Westfalen die Form eines Herzens hat. Das östliche Ruhrgebiet bildet einen Teil der westlichen Herzkammer, deren Zentrum wiederum Dortmund ist. So lebt die Stadt in einem manchmal unüberbrückbaren Zwiespalt. Kulturell westfälisch geprägt, teilt sie die verschiedenen Stadien der industriellen Revolution, die das Ruhrgebiet in den letzten 150 Jahren explosionsartig durchlebte, mit den rheinischen Städten der Region. Die sozialen Verwerfungen, die die Masseneinwanderung und der rapide Anstieg der Bevölkerung auf 5 Millionen Mäuler, die gestopft werden wollten, mit sich brachten, waren der Entwicklung einer eigenständigen Küchentradition nur selten förderlich.

Dabei hatte Dortmund kulinarisch schon immer eine Menge zu bieten. Das zeigt sich heute besonders im musealen Bereich. Die Stadt ist Heimat des Deutschen Kochbuchmuseums und eines Brauereimuseums. Auf dem Ostenfriedhof ist Henriette Davidis begraben, die Autorin des ersten modernen Kochbuchs überhaupt. Ihr „Praktisches Kochbuch“ ist durchaus westfälisch geprägt und für viele Köche im Ruhrgebiet eine wichtige historische Inspirationsquelle. Bis weit in 20. Jahrhundert hinein war das Dortmunder Exportbier ein Weltmarke und Dortmund – neben München – die deutsche Bierstadt schlechthin. Heute sind die Dortmunder Brauerei-Aktivitäten unter einer Dachmarke zusammen gefasst, die als eine Art Solidarbeitrag zur Wiedervereinigung unter dem Namen „Radeberger“ firmiert, nach einer ebenfalls zum Konzern gehörenden Brauerei in Sachsen.

Es ist eine Dortmunder Besonderheit, dass die Stadt über zahlreiche stattliche, traditionsreiche Gasthöfe verfügt, die die westfälische Fahne mit der gleichen Selbstverständlichkeit hochhalten wie die bayerischen Wirtschaften das weißblaue Löwenbanner. Einer der stattlichsten ist die „Overkamp Gastronomie“ in Dortmund-Höchsten, die im letzten Jahr mit dem zweiten Platz beim „Westfälischen Gastronomiepreis“ in der Kategorie „Gasthöfe und Landhäuser“ ausgezeichnet wurde. Küchenchef des über 300 Jahre alte Familienbetriebs ist Günther Overkamp-Klein. So populär der sich ständig vergrößernde Gasthof beim Publikum ist, so konsequent ist das regionale Konzept der Küche, das sich in dem Kochbuch „Lecka Dortmund“ manifestiert. „Nein“, meint Senior-Chef Heinrich Overkamp im Vorwort, „wir haben kein Kochbuch gemacht – es ist mehr. Es ist der Ausdruck unserer Verbundenheit mit unserer Stadt.“

Die Verbundenheit mit der Region bekräftigt die „Overkamp Gastronomie“ u.a. mit ihrer Mitgliedschaft im Verein „Westfälisch genießen“. 30 gastronomische Betriebe, dazu Getränke- und Food-Hersteller vom Münster- bis ins Sauerland, von der Lippe bis zur Ruhr, haben sich seit 18 Jahren zusammengetan, um das kulinarische Erbe der Region zu pflegen, zu vermarkten und gemeinsam Öffentlichkeitsarbeit zu machen. Die Brauerei Warsteiner gehört genauso dazu wie der Pumpernickel-Produzent Mestemacher oder die Metzgerei Marten. Die Mitglieder haben gemeinsam ein westfälisches Kochbuch herausgebracht.

Die Restaurants sind allesamt besuchenswerte Ausflugziele, bei denen sich Genuss und Freizeitgestaltung bestens verbinden lassen. Im Ruhrgebiet sind das neben der „Overkamp Gastronomie“ noch das Hotel-Restaurant „Zum Neuling“ in Bochum und die „Rohrmeisterei“ in Schwerte.

„Zum Neuling“ ist ähnlich wie die „Overkamp Gastronomie“ ein alteingesessener Familienbetrieb. Seit über 100 Jahren betreibt die Familien Schmidt in Bochum-Weitmar-Neuling das Gasthaus, ursprünglich als Bergmannskneipe mit Tanz, gelegentlichen Boxkämpfen und einem Schießstand. Für viele Vereine wurde es zu einem Vereinslokal. Damals außerhalb der Stadt, ist der Stadtteil Neuling heute ein dichtbesiedeltes Wohngebiet, und das Hotel-Restaurant eine der profiliertesten gutbürgerlichen Adressen Bochums. Immer wieder stellt Junior-Chef Axel Schmidt westfälische Gerichte auf die Karte, für das heutige Publikum fein überarbeitet. Wie Overkamp arbeitet er mit zahlreichen regionalen Lieferanten und Produzenten zusammen.

Dieses klare kulinarische Profil veranlasste „Slow Food im Ruhrgebiet“ im Frühjahr dazu, im „Neuling“ ein sog. „Stammessen Westfälisch“ zu veranstalten. Als regionaler Ableger der internationalen Genießervereinigung hat „Slow Food im Ruhrgebiet“ für die Kulturhauptstadt RUHR.2010 eine Menü-Reihe konzipiert, die die fünf Säulen der Ruhrgebietsküche abbildet. Die Ruhrgebietsküche, so formulierten die „Slow Foodies“ in einem Manifest, sei eine typische Metropolenküche, die besonders durch die Zuwanderung der Arbeitsimigranten geprägt ist. Die Basis-Küchen bilden die historischen Regionen des Ruhrgebiets, das Rheinland und Westfalen, die durch die nachhaltigen Einflüsse aus der polnischen, italienischen und türkischen ergänzt werden. Ende November gibt es ein „Gastmahl Polnisch“ mit Restaurant „Gurski“ in Mülheim an der Ruhr.

Aus der Slow-Food-Diskussion um die Ruhrgebietsküche entwickelte sich eine weitere Idee, die zur Gründung der Köchevereinigung „ReVier“ führte. Auf Anregung des Herner Slow-Food-Vorsitzenden Hartmut Julius Meimberg vom Weinrestaurant „Julius“ taten sich er, Stefan Manier vom „Gasthaus Stromberg“ in Waltrop, Dirk Eggers vom Hotel-Restaurant „Eggers“ in Sprockhövel und Mario Kalweit von „La cuisine d’art manger“ in Dortmund zusammen, um ihre Vision einer „Neuen Ruhrgebietsküche“ zu verwirklichen. Alle vier sind dabei stark von der westfälischen Küche geprägt.

„Unser Ziel ist es, die traditionellen Gerichte unserer Region auf hohem Niveau neu zu interpretieren“, erklärt WDR-Koch Mario Kalweit, der zusammen mit Hartmut Meimberg Sprecher der Gruppe ist. „Es geht uns darum, dass unsere Mitglieder sich dabei in ihrer individuellen Art zu Kochen darstellen können“, ergänzt Meimberg. So hatten alle vier Restaurants im Oktober und z.T. noch im November ein regionales Herbstmenü auf dem Programm. Im Kulturhauptstadtjahr wird die Aktion fortgesetzt.

Mit dem Begriff „Neue Ruhrgebietsküche“ nahm „ReVier“ einen Ball auf, den der „FC Ruhrgebiet“ bereits 2006 ins kulinarische Stadion des Ruhrgebiets geworfen hat. Auf Anregung von Gastro-Journalisten taten sich anfangs 13, heute 22 Spitzenköche aus dem Ruhrgebiet zusammen, um die schlummernde kulinarische Region wach zu rütteln. So unterschiedlich die Köche auch sind, gemeinsam ist ihnen die Faszination für den Fußball, die sich im Namen des Vereins widerspiegelt. Mit Küchen-Partys, Koch-Events und Catering-Aktionen propagieren sie ihre junge, populäre Art der „Neuen Ruhrgebietsküche“, bei der die westfälische Küche allerdings eine ausschlaggebende Rolle spielt.

Gründungsmitglied vom „FC Ruhrgebiet“ ist Manfred Kobinger, Küchenchef der „Rohrmeisterei“ in Schwerte. In diesem Bürger- und Kulturzentrums manifestiert sich das „Neue Ruhrgebiet“, wird die Kultur in der Metropole Ruhr deutlich. Das Restaurant ist in den Räumlichkeiten einer alten Fabrikhalle untergebracht, die zum industriekulturellen Erbe der Region gehört. Ursprünglich als Pumpstation am Ufer der Ruhr erbaut, wurden hier später die Rohre für die Wasserversorgung des Großraum Dortmunds instandgesetzt.

Selbstverständlich ist die „Rohrmeisterei“ auch Mitglied von „Westfälisch genießen“. „Unsere moderne Interpretation der westfälischen Küche wird vom Publikum gern angenommen“, meint Manfred Kobinger, „zumal wir auf die Produkte regionaler Produzenten zurückgreifen können.“ So steht auf der Speisekarte eine Käseplatte mit Spezialitäten der Käserei Wellie in Fröndenberg an der Ruhr, und eine weitere Spezialität wird nur ein paar Türen produziert. Im Gebäudekomplex der „Rohrmeisterei“ ist die „Schwerter Senfmühle“ untergebracht, einer der letzten handwerklich arbeitenden Senfhersteller Westfalens.

Wie eifrig die die Köche im Ruhrgebiet nach ihren Wurzeln suchen, zeigt, dass immer wieder Häuser aus dem östlichen Teil des Reviers mit dem „Westfälischen Gastronomiepreis“ ausgezeichnet werden, den die Leser des „Westfalenmagazins“ im letzen Jahr erstmals vergaben. Franz L. Lauters „Venus im Schloss Nordkirchen“, Jürgen Fassbenders „Wielandstuben“ in Hamm, „Hürsters Kochwerkstatt“ in Dortmund-Bodelschwingh oder die „Overkamp Gastronomie“ in Dortmund-Höchsten gelangten 2008 auf die vorderen Plätze in verschiedenen Kategorien.

Wie wenig provinziell regionale Küche sein kann, beweist „FC Ruhrgebiet“-Mitglied Heiko Antoniewizc. Der einstige Gründer des Dortmunder Partyservice „Art Manger“ gilt heute als einer der „Päpste der Molekularküche“ in Deutschland. In aller Welt weist er, ganz im Sinne des Molekularküchen-Erfinders Ferran Adrià, angehende Köche mit Seminaren und Schulungen in die modernsten Gar- und Kochtechniken ein. Und für „FC Ruhrgebiet“ kocht er auch selbst: Sein „Pfefferpotthast 2.0“ befördert das Gericht aus der Bodenständigkeit Westfalens in die Gefilde des globalisierten Genusses.

Lecker Dortmund? Sicher. Neue Ruhrgebietsküche? Auf alle Fälle. 

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