Samstag, 4. Juni 1994

Aus dem Archiv: Zeitungsente

Der Text erschien erstmalig in „Ausgehen im Ruhrgebiet 1994/1995“.
Das Restaurant gibt es nicht mehr.


Im Herzen des Hurrikans herrscht bekanntlich die himmlische Ruhe des Vakuums. Viel anders ist es auch nicht in der „Zeitungsente“, die man in der Essener Fleetstreet, der Sachsenstraße, suchen muss, mitten im Herzen eines der größten Zeitungskonzerne Deutschlands. Im NRZ-Presshaus betreibt Ridha Haouas – zusammen mit „La Grappa“-Padrone Rino Frattesi – seit etwa drei Jahren ein kühl-elegantes italienisches Restaurant, auf dass sich Medienzaren und Lokalredakteure exklusiv laben können, mittags am schnellen 3-Gang-Menü für 39 Mark, abends am gemächlicheren 6- oder 8-Gang-Menü für 89 oder 108 Mark.

Doch nur, wer die Einsamkeit der geballten Medienmacht im Ruhrgebiet genießen will, kommt freitagabends in der „Zeitungsente“ auf seine Kosten. Es besteht keine Gefahr, scharfzüngige Poltkommentatoren oder stilbewusste Feuilletonisten in heißen Diskussionen vorzufinden – wo mögen die nur essen? Stattdessen sitzt da der schüchterne Restauranttester eines konzernfreien Ruhrgebietsmagazins und ist mächtig stolz darauf, seiner Begleitung mit dem Hinweis imponieren zu können, der eine der beiden anderen Gäste am Nebentisch sei der Wattenscheider Großkonfektionär Klaus Steilmann, der vermutlich einen Sportredakteur mit neusten Hintergrundinformationen über seinen abgestiegenen Fußballverein brieft.

Wäre da nicht der verteufelt gute Weißwein, der die Laune hebt, die Einsamkeit wäre appetitverderbend: einsam liegen drei Krabben, ein Scheibe Tomate mit Mozzarella und drei Scheiben Entenbraten auf dem Vorspeisenteller, einsam pappen drei hausgemachte Teigwaren in einer pikanten Gorgonzola-Sauce, einsam kullern vier knickergroße Karotten zwischen einem babyfaustgroßen Rinderfilet in Barolosauce und der Gemüsebeilage.

Das süße Dessert ist famos, der Capuccino mit viel Zeit und Liebe aufgeschäumt: Zu Zeiten von Reagnomics und Thatcherismus hätte das eine Kultstätte für Yuppies sein können, aber in der ausgehenden Ära Helmut Kohl ist es eine trauriger Anachronismus. Patron Ridha Haouas kennt seinen Feind ganz genau – das Finanzamt besieht immer argwöhnischer die Spesenabrechnungen seiner Kunden.

In unserem Fall betrug sie 243 Mark – zu viel für das, was das sich so exklusiv gebende Ambiente der „Zeitungsente“ nicht erfüllen konnte. „Keine Angst“, muntert der Patron beim Abschied unfreiwillig entlarvend auf. „Beim nächsten Mal wird alles besser.“
-kopf

45128 Essen, Sachsenstr. 30

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